Die Blauzungenkrankheit ist eine Viruserkrankung von Wiederkäuern, die akut, seuchenhaft und saisongebunden verläuft. Das Blauzungenvirus (BTV) tritt mit über 30 Serotypen auf, die in ihrer Virulenz z. T. unterschiedlich sind. Neben hochvirulenten Typen sind Stämme bekannt, die bei bestimmten Wirtstierspezies asymptomatische Infektionen hervorrufen.
Die Blauzungenkrankheit wurde erstmals in den 1870er Jahren in Südafrika beobachtet. Von dort wurde das Virus mit Merinoschafen in andere Teile Afrikas verschleppt. Seither hat man Seuchenausbrüche auch in arabischen, asiatischen, europäischen und amerikanischen Ländern nachgewiesen. In Afrika, im Nahen Osten, auf dem indischen Subkontinent, in China, vielen Teilen der USA und Mexikos, wo die entsprechenden Überträgerarten ganzjährig aktiv sind, ist diese Tierseuche enzootisch (fest etabliert und regelmäßig vorkommend) geworden.
Mit dem BTV infizierte Tiere zeigen nach einer Inkubationszeit von ca. fünf bis zwölf Tagen Fieberausbrüche und Kreislaufstörungen über sechs bis acht Tage, verstärkte Speichelsekretion, Blutandrang (Hyperämie) im Kopfbereich sowie Ödembildungen und Schwellungen am Kopf, vorrangig im Augen-, Ohren- und Maulbereich. Die oralen und nasalen Schleimhäute können Erosionen und Geschwürbildungen z. T. mit eitrigem Ausfluss aufweisen. Lippenödeme mit Entzündungen der Nasenschleimhaut, Zungenlähmung, Geschwürbildung an der Maulschleimhaut, innere Blutungen, heftige Atembeschwerden und Veränderungen der Skelettmuskulatur sind weitere Symptome. Eine bläuliche oder blaurötliche Verfärbung der Haut (Zyanose) infolge mangelnder Sauerstoffsättigung des Blutes kann an der Maulschleimhaut und der Zunge auftreten (Namensgebung). Dieses Symptom wird jedoch nur bei einem relativ kleinen Teil der betroffenen Tiere, insbesondere bei Schafen, beobachtet. Häufig werden Zitzen-, Euter- und Vulvaveränderungen registriert. Mitunter kommt es zu Aborten und Missbildungen der Feten bei infizierten Muttertieren. Jungtiere können unter Durchfall leiden. Nicht selten treten Sekundärinfektionen auf, die beispielsweise zu eitrigen Lungenentzündungen führen können.
Die Sterblichkeit der erkrankten Wiederkäuer ist in Abhängigkeit von der befallenen Spezies bzw. Rasse, dem Alter, dem Gesundheits- und Ernährungszustand des betroffenen Individuums sowie dem verursachenden Virusstamm unterschiedlich hoch. Bei Schafen kann sie zwischen 2 und 80 % betragen, bei Jungtieren ist sie am höchsten. Rinder und Ziegen erkranken meist weniger schwer und überleben die Infektion häufiger als Schafe.
Die Labordiagnose der Infektion erfolgt indirekt auf immunologischem Wege (z. B. per ELISA oder durch Neutralisationstests) zum Nachweis Virus-spezifischer Antikörper oder direkt durch Virusanzüchtung in einer Zellkultur oder mit Hilfe molekularbiologischer Verfahren (RT-PCR) zum Nachweis des Virus bzw. seiner Erbinformation.
Ein mit BTV infiziertes Wirbeltier ist nach derzeitigem Kenntnisstand maximal ca. 70 Tage virämisch (d.h. mit Viruspartikeln im peripheren Blut: Ziegen und Schafen bis zu 50 Tage, Rinder bis zu 70 Tage) und damit infektiös für den Überträger.
In Mitteleuropa brach die Blauzungenkrankheit erstmals 2006 aus. Für diesen Ausbruch, der sich bis 2009 über weite Teile Europas ausdehnte, Tausende von landwirtschaftlichen Betrieben allein in Deutschland betraf und aufgrund der verhängten Handelsbeschränkungen und Folgekosten einen wirtschaftlichen Schaden von mehreren Hundert Millionen Euro verursachte, war der Serotyp 8 des Blauzungenvirus (BTV-8) verantwortlich. Ein im Eilverfahren entwickelter und angewandter Impfstoff sorgte dafür, dass die Epidemie bereits 2009 abflaute und 2010 als beendet erklärt werden konnte. Seitdem gab es in Deutschland nur noch eine Handvoll Fälle von Infektionen mit BTV-8.
Der Einschleppungsmodus des BTV-8 nach Mitteleuropa im Jahr 2006 ist ungeklärt. Theoretisch kann ein Eintrag sowohl über infizierte Gnitzen, als auch über infizierte Wiederkäuer oder deren Produkte (Eizellen, Embryonen, Spermaproben, Blut) erfolgen. Gnitzen können neue Seuchenherde schaffen, wenn sie per Schiffscontainer, Lkw, Flugzeug etc. über weite Distanzen unbeabsichtigt verschleppt werden. Nachgewiesen sind auch passive Windverdriftungen der Mücken über Entfernungen von mehreren Hundert Kilometern. Eine Etablierung des Virus setzt die Verfügbarkeit geeigneter Vektoren und empfänglicher Wirbeltierwirtspopulationen und ggf. geeigneter Virusreservoire voraus.
Die ersten deutschen Seuchenfälle, die im August 2006 in Rinderbeständen und Schafherden im Aachener Raum (Nordrhein-Westfalen) festgestellt wurden, standen in engem Zusammenhang mit den Nachweisen in der niederländischen Provinz Limburg und in der belgischen Provinz Lüttich, die wenige Tage zuvor Ausbrüche meldeten. Bis zum Ende des Jahres 2006 war die Blauzungenkrankheit im Dreiländereck mit zahlreichen Infektionen bei Rindern und Schafen aufgetreten.
Zuvor war das BTV-8 nur in Afrika südlich der Sahara, in der Karibik sowie in Indien und Pakistan beobachtet worden. Da der weltweit wichtigste Überträger des BTV, C. imicola, niemals nördlich der Alpen nachgewiesen worden war, schien das Virus unter den in Mitteleuropa heimischen Gnitzen-Arten geeignete Vektoren gefunden zu haben. Möglicherweise leisteten die hohen Temperaturen im Sommer und Herbst 2006 seiner schnellen Ausbreitung Vorschub.
Hat sich eine vektorkompetente Gnitze mit dem BTV infiziert, so bleibt sie lebenslang infektiös. Angesichts der kurzen Lebensdauer adulter Gnitzen und der nicht einmal drei Monate andauernden Virämie bei Wiederkäuern wäre allerdings bei Abwesenheit der Vektoren im Winter zu erwarten, dass Seuchenherde, saisonal und klimatisch bedingt, von selbst erlöschen. Ein derartiges Phänomen wurde verschiedentlich in Südeuropa, z. B. in Zentralspanien, beobachtet. Diese Erwartung bestätigte sich in Mitteleuropa leider nicht. Bis heute ist unklar, wie das Virus überwintert. Allerdings muss man im Zuge der Klimaerwärmung inzwischen davon ausgehen, dass die winterliche Gnitzeninaktivität kürzer als die virämische Phase der Wirte ist, so dass den im neuen Jahr schlüpfenden Gnitzen die alten Infektionsquellen noch zur Verfügung stehen. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass der Übertragungszyklus in Ställen auch im Winter weiterläuft.
Deutschland und die anderen betroffenen Länder Mitteleuropas beteiligten sich während der Blauzungenepidemie 2007 und 2008 an einem groß angelegten Untersuchungsprogramm (entomologisches und serologisches Monitoring), das von der EU kofinanziert wurde. Nach einem flächendeckenden Rasterverfahren wurden im serologischen Monitoring in festgelegten Rinderbeständen monatlich Blutproben von Rindern entnommen und untersucht. In einem vergleichbaren Verfahren fand der Fang der als Vektoren in Frage kommenden Gnitzen (C. obsoletus-Gruppe, C. pulicaris-Komplex) im Rahmen des entomologischen Monitorings statt.
Im Herbst des Jahres 2023 tauchte in Holland ein neuer Blauzungentyp auf, der Serotyp 3. Die während der ersten Epidemie entwickelte Vakzine gegen BTV-8 ist nicht kreuzprotektiv, so dass zu dem Zeitpunkt keine schützende Impfung gegen BTV-3 möglich war. Nicht überraschend breitete sich das Virus daher schnell in die Nachbarländer aus und überrannte u. a. Deutschland im Jahr 2024. Mittlerweile liegen mehrere Impfstoffe gegen BTV-3 vor, die per Eilverordnung des Bundes schon angewendet werden dürfen. Da sie aber noch keine reguläre Zulassung haben, bleiben die Handelsbeschränkungen in Kraft.
Im Vergleich zu BTV-8 scheint das BTV-3 zu schwereren Krankheitsverläufen zu führen. Das klinische Krankheitsbild kann an die Maul- und Klauenseuche erinnern (z. B. Fieber, Schleimhautrötungen/-entzündungen, Lahmheit).
Noch während das BTV-3 intensiv in Mitteleuropa zirkulierte, wurde, wiederum aus Holland, im Herbst 2024 das Auftauchen des BTV-Serotyps 12 gemeldet. Die Befallsregion und die Anzahl befallener Betriebe ist noch klein, doch wird eine erneute europäische Epidemie für das Jahr 2025 befürchtet